Frühe Zeitungs-Beilagen als Medien populärer Literatur

Hermann Schönleins „Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt“ und Karl Mays „Dukatenhof“

Von Andreas Graf

Verbreitungsstrategien

Karl May ist vermutlich der erfolgreichste deutsche Autor populärer Literatur der letzten hundert Jahre – Genaueres lässt sich aufgrund fehlender Vergleichszahlen kaum sagen [vgl. Lowsky 1987]. Seine seit Beginn der 1890er Jahre stetig zunehmende Berühmtheit war nicht zuletzt der vom Autor marketingtechnisch geschickt betreuten Herausgabe seiner gesammelten Reiseerzählungen im Freiburger Verlag Fehsenfeld zu verdanken. Darüber und auch über die Erfolge Mays als Zeitschriften- bzw. Kolportageromanautor im Jahrzehnt zuvor ist in der einschlägigen Forschung immer wieder berichtet worden. Dagegen liegen manche Aspekte der frühen und frühesten, in die siebziger bzw. möglicherweise bereits sechziger Jahre fallenden Schaffensphase des Autors noch immer im Dunkel mangelnder biografischer und bibliografischer Zeugnisse. Am Beispiel einer Zeit­schrif­ten­ver­öf­fent­li­chung Karl Mays soll im Folgenden ein kurzes Schlaglicht auf die Distributionsweise und die Wirkungsmöglichkeiten der Unterhaltungsliteratur im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts geworfen und mit Überlegungen zur Verbreitung der ganz frühen May-Texte verbunden werden.

Nicht zuletzt durch die noch nicht lange zurückliegende Entdeckung und Publikation bislang unbekannter Beiträge Mays zu einem sächsischen Volkskalender, darunter auch solcher, die vor 1870 entstanden sind [May 1994], können die Fragen nach Wirkungsfähigkeit und Verbreitungsgebiet schon der frühen May-Erzählungen – und damit letztlich auch nach der Schreibstrategie des Autors [vgl. Graf 1995] – noch einmal ganz neu gestellt werden. Dabei soll hilfsweise – analog zu den Verbreitungskategorien historischer Medien überhaupt – zwischen lokaler, regionaler und überregionaler Verbreitung bzw. Bedeutung unterschieden werden. Zu klären bliebe, inwieweit diese Begrifflichkeit auch auf die soziale Zu­sam­men­set­zung der Leserschaft übertragbar ist, d. h. ob und ab wann bestimmte soziale Schichten (etwa: Kleinbürgertum) oder Milieus (z. B. der bürgerliche Katholizismus) übersprungen werden konnten. Zweifellos überregionale Verbreitung fand May in den 1890er Jahren durch die bereits erwähnten gesammelten Reiseerzählungen; Leserzeugnisse aller Regionen des deutschen Sprachgebiets und (fast) aller sozialen Schichten scheinen hier eine ein­deu­ti­ge Sprache zu sprechen. Inwieweit zeitlich frühere Zeitschriften- und Kol­por­ta­ge­ver­öf­fent­li­chun­gen gleichfalls bereits eindeutig überregionalen bzw. schichtenübergreifenden Cha­rak­ter hatten, bedarf eingehender Untersuchungen. Zumindest was die soziale Zu­sam­men­set­zung der jeweiligen Leserschaft angeht, gelangten Mays Beiträge etwa für den Deutschen Hausschatz oder den Guten Kameraden möglicherweise über die soziale Region des deut­schen Katholizismus bzw. der gymnasialen Jugend nicht hinaus.

Der erwähnte, im sächsischen Stolpen gedruckte Kalender hatte im Jahr 1873 immerhin bereits eine Auflage von 66.000 [May 1994], was als Indiz dafür angesehen werden kann, dass die lokale Verbreitung des Autors Karl May bereits in dieser Frühphase mit einer gewissen regionalen Bedeutung Hand in Hand ging. Diese Erkenntnis deckt sich mit Beobachtungen früherer Bibliographen. Die May-Bibliographie von Plaul weist für die Jahre 1875 bis 1879 – neben der direkten sächsischen Umgebung – auch schon Orte wie Stuttgart, Breslau, Wies­baden, Graz, Hamburg, Mühlhausen und Regensburg als Erscheinungsorte von May-Texten nach [Plaul 1988]. Allerdings dürften einige – wenn nicht gar die meisten – dieser Pub­li­ka­tio­nen ihrerseits nur von lokaler bzw. regionaler Bedeutung gewesen sein (wie etwa Roseggers Heimgarten, der in Graz mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren erschien), so dass man von verschiedenen, nebeneinander bestehenden Verbreitungsregionen ausgehen muss, ohne be­reits durchgängig von überregionaler Verbreitung sprechen zu können. Gleichwohl fanden einige May-Texte auch schon überregionalen Absatz, etwa in Trewendt’s Volkskalender (Breslau), der in hohen Auflagen verbreitet war, oder den verschiedenen Zeitschriften des Verlages von Hermann Schönlein (Stuttgart).

Auf eine der Schönlein’schen Zeitschriften ist hier das Augenmerk gerichtet. Dabei wird erstmals ein neues, von Schönlein geschaffenes Publikationsmittel beschrieben, das in der publizistischen Historiografie bislang weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Karl May hat bei Schönlein in den drei Jahren zwischen 1877 und 1879 vier verschiedene Erzählungen veröffentlicht, die alle den Gattungen Humoreske bzw. Dorfgeschichte angehören. In der Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens erschien 1877 Der Dukatenhof, im gleichen Jahr Ausgeräuchert in Illustrirte Chronik der Zeit, im folgenden Jahr Der Kaiserbauer ebendort, im Buch für Alle 1878 Der Samiel und 1879 der Dukatenhof noch einmal im Illustrirten Unterhaltungs-Blatt. Die erst- bzw. letztgenannte Erzählung – Mays erste eigentliche Dorf­geschichte[Hein 1987] – war also im Hause Schönlein die relativ erfolgreichste des Autors. Zum möglichen Verbreitungsgebiet dieser Erzählung – die bislang für die Hefte 32 bis 39 des Jahrgangs 1879 des Illustrirten Unterhaltungs-Blatts als Beilage einer Wochenschrift für Carlsruhe und Umgebung nachgewiesen war – schreibt Plaul in seiner Bibliographie, es sei wahrscheinlich, dass noch weitere Parallelausgaben existieren. Die maßgebliche Bi­blio­gra­phie verzeichnet nicht weniger als 77 Titelnachweise von Parallelausgaben des Illustrirten Unterhaltungs-Blatts. Die Zeitungen, deren Feuilleton-Beilage Schönleins Blatt bildete, er­schie­nen demzufolge von Bensberg, Bernau und Beuthen bis Witzenhausen, Wolfhagen und Zörbig. Dabei ist diese Liste nicht einmal vollständig, da ausschließlich Titel aufgenommen wurden, für die indirekte oder direkte Nachweise in öffentlichen Bibliotheken vorhanden waren. Sehr wahrscheinlich existierten mehr als 100 solcher Beilagen. Anderthalb Dutzend solcher Parallelausgaben (P1 bis P18), für die a) Mays Erzählung nachgewiesen werden konnte, bzw. die b) im Jahr 1879 – als Mays Erzählung dort abgedruckt wurde – erschienen sind, werden im Folgenden nachgewiesen [vgl. Estermann 1989].

 

Liste der Parallelausgaben

P 1
P1Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt der
Hes­si­schen Morgenzeitung.
Verlag von Paul Voigt, früher J. J. Scheel in Cassel. Expedition vor dem Schloss Nr. 4
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[UB Marburg]

P 2
P2Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Sonntags-Beilage zum
Liegnitzer Stadt­blatte.
Verlag von H. Krumbhaar in Liegnitz.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[UB Breslau]

P 3
P3Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Beilage zum
Bersenbrücker Kreisblatt.
Verlag von J. H. Buddenberg in Qua­ken­brück.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[UB Göttingen]

P 4
P4Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Wöchentliche Beilage zum
Darmstädter Tagblatt.
Verlag der L. C. Wittich’schen Hof­buch­dru­cke­rei in Darmstadt.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Hess. LB Darmstadt]

P 5
P5Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Sonntags-Beilage zum
Hoyaer Wochenblatt.
Verlag von G. Knauer’s Buchdruckerei (Anton Petzold) in Hoya.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[UB Göttingen]

P 6
P6Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Sonntags-Beilage zum
Amberger Tagblatt.
Verlag von Eduard Pohl in Amberg.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Bayr. SB München]

P 7
P7Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Neue Folge der Bayreuther Fa­mi­li­en­blät­ter. 12. Jahrg. Erscheint als Sonn­tagsblatt der Oberfränkischen Zeitung.
Verlag von Joseph Sahn in Bayreuth.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Bayr. SB München]

P 8
P8Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Sonntags-Beilage zur
Unterfränkischen Zeitung.
Verlag von Fr. J. Reichardt in Schwein­furt.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Bayr. SB München]

P 9
P9Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Sonntags-Beilage der
Zweibrücker Zeitung.
Verlag von August Kranzbühler in Zweibrücken.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Bayr. SB München]

P 10
P10Illustrirte Sonnabendsbeilage der
Eisenbahn-Zeitung.
Zur Unterhaltung im Familienkreise.
Verlag von C. M. Ed. [Lübeck].
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Stadtbibliothek Lübeck]

P 11
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[Donnerstagsbeilage zur] Allgemeine Lauenburgische Landeszeitung.
Verlag von Rudolf Domine in Lauenburg. [Anm.]

P 13
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[des Bensberg-Gladbacher Anzeigers.]
Verlag von V. Haake in Bensberg.
[Stadtarchiv Bergisch Gladbach]. [Anm.]

P 14
P14Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
Wöchentliche Beilage zur
Bopparder Zeitung.
Verlag von Theodor Böhme in Bop­pard.
Redigirt, gedruckt und herausgegeben von Hermann Schönlein in Stuttgart.
[Stadtbücherei Boppard]

P 15
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[der Düsseldorfer Zeitung.]
Druck und Verlag der Stahl’schen Buchdruckerei in Düsseldorf. Hauptexpedition: Gra­ben­str. 19, Filialexpedition: Klosterstr. 10 a.
[UB Düsseldorf] [Anm.]

P 16
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[Samstagsbeilage zur] Neviges-Hardenberger Volkszeitung. Organ für Dilldorf, Dönberg, Große und Kleine Höhe, Kuhlendahl, Nordrath, Richrath, Rottberg, Unten- und Oben­sie­ben­eick, Vosnacken, Wallmichrath und Windrath.
Druck und Verlag von C. Christ in Neviges, Wilhelmstr. Nr. 13. [Anm.]

P 17
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[des Rheingauer Anzeigers.]
Verlag von Markus Dettmer in Rüdesheim.
[Stadtarchiv Rüdesheim] [Anm.]

P 18
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[Wöchentliche Beilage zum] Witzenhäuser Kreisblatt.
Verlag Trautvetter in Witzenhausen. [Anm.]

 

Hermann Schönleins Zeitschriftenunternehmungen

Eine Grundschwierigkeit bei der Untersuchung des Verbreitungsgebietes des Illustrirten Un­terhaltungs-Blattes und damit auch der Lesersoziologie der in Rede stehenden May-Er­zäh­lung besteht in der bibliographischen Natur dieses Schönleinschen Blattes: Es handelt sich nämlich um ein eigenständiges, von Hermann Schönlein in Stuttgart redigiert, gedruckt und herausgegebenes Feuilleton, das den lokalen Tages- oder Wochenblättern jeweils als Wochenend- oder Sonntagsbeilage beigefügt wurde. Im Impressum der Hefte erscheint nur für den Verlag jeweils die lokale Variante, alle anderen Angaben beziehen sich auf Schön­lein. Natürlich kann nicht für jede Zeitung, bei der zu irgendeinem Zeitpunkt einmal diese Schönlein-Beilage nachgewiesen ist – und dies sind Dutzende –, ohne weiteres ange­nommen werden, dann müsse die Beilage auch schon im Jahr 1879 vorhanden gewesen sein. Vielmehr ist realistischerweise davon auszugehen, dass Schönlein sukzessive immer mehr Blätter als Abnehmer seiner Feuilletonbeilage gefunden hat, wie man andererseits auch damit rechnen muss, dass manche Blätter nach einigen Jahren wieder von der zentralen Feuilleton-Versorgung abgesprungen sind.

Alle Zeitschriftengründungen des August Hermann Schönlein (1833–1908) sind Zeugnisse für die besondere innovative Kraft dieses Stuttgarter Verlegers, mit der er in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts den deutschen Zeitschriftenmarkt revolutionierte. Mit dem Buch für Alle gründete Schönlein 1865 eine der ersten illustrierten Zeitschriften eigens und vorwiegend für den Vertrieb durch Kolportage, und seine 1876 begründete Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens war die erste Romanzeitschrift in Buchform, darüber hinaus auch die erste, die – weil auch sie per Kolportage und nicht im teuren Abonnement vertrieben wurde – wirklich breitere Leserschichten (über das betuchte Bürgertum hinaus) erreichte. Der Bezieher dieser Romane in Zeitschriftenform, die etwa monatlich erschienen, hatte nach kurzer Zeit eine eigene Kleinoktav-Bibliothek erstanden. Ebenfalls gänzlich neue Publikationsformen stellten auch die beiden von Schönlein gegründeten Feuilletonbeilagen dar, das seit 1873 erscheinende Illustrirte Unterhaltungs-Blatt, eine Belletristische Wochenschrift für die Familie und Jedermann, und das 1874 gegründete Illustrirte Sonntags-Blatt, eine Wochenschrift zur Unterhaltung und Belehrung. Beide Unterhaltungsbeilagen wurden speziell für kleine und mittlere Lokalblätter pro­duziert. Deren Verleger waren damit einerseits der kostenintensiven Haltung einer eigenen Redaktion und Herstellung enthoben, konnten aber andererseits ihrem lokalen Lese­publikum ein durchaus anspruchsvolles – und vor allem: unterhaltsames – wöchentliches Feuilleton bieten. Warum Schönlein gleich zwei Beilagen ins Leben gerufen hat, kann nur gemutmaßt werden; vermutlich wollte er auf diese Weise die Möglichkeit haben, auch direkte Konkurrenten auf einem lokalen Zeitungsmarkt mit einer – jeweils etwas anders gestalteten – Beilage aus seinem Haus zu bestücken [Anm.]. Die Geschichte dieser beiden überaus erfolgreichen Beilagen ist bislang weitgehend unerforscht [Anm.]; sie wurden seit den 1880er Jahren von anderen Verlagen vielfach kopiert und imitiert – gleichlautende Titel lassen sich zu Dutzenden nachweisen. Schönleins revolutionäre Idee einer „Zeitschrift in der Zeitung“ – denn nichts Anderes ist diese Form der Wochenbeilage für Tageszeitungen – setzte sich weithin durch. Eine Stimme aus dem Jahr 1890 meinte zu Schönleins Beilagen: Sorgfältige Durchführung verschaffte auch diesen Journalen eine thatsächlich großartige, heute nach Hunderttausenden zählende Verbreitung. [Pfau 1890]

Schönleins editorisches Genie beruhte offenbar vorwiegend auf der Fähigkeit, die Mög­lichkeiten der bis dahin bekannten populären Medien zeitgemäß weiterzudenken, indem er sie produktiv miteinander verband. Schon seine Allgemeine Familien-Zeitung (1.1869– 6.1874), das einzige weniger erfolgreiche Unternehmen Schönleins, stellte den Versuch dar, Zeitschriften- und Zeitungsmerkmale miteinander zu kombinieren. Anders als deren Titel (Zeitung) suggerierte, handelte es sich dabei im Grunde aber um eine traditionelle Fa­mi­li­en­zeitschrift, die allerdings in einem Zeitungsgroßformat erschien. Mit diesem eher un­hand­lichen Format, das eine Mehrfachnutzung – durch verschiedene Familienmitglieder, über einen längeren Zeitraum, an unterschiedlichen Orten – behinderte, war seine Zielgruppe offenbar überfordert. Dagegen kombinierten die oben beschriebenen Beilagen – die im gleichen Jahr erschienen, als sich der Misserfolg des Konzepts der Allgemeinen Familien-Zeitung deutlich abzeichnete – wiederum Zeitschrift und Zeitung, aber auf ganz neue und eben höchst erfolgreiche Weise. Ähnliche medienüberschreitende bzw. medienverbindende Schöpfungen waren Schönleins Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, die Buch und Zeitschrift miteinander kombinierte, und Das Buch für Alle, in dem Familien- und Roman­zeitschrift verbunden wurden.

Überlegungen zum Verbreitungsgebiet und Lesepublikum der ersten Dorfgeschichte Karl Mays müssen also die besondere Funktion der Schönleinschen Blätter berücksichtigen. Zeitgenössiche Darstellungen betonen meist ausdrücklich, es sei das Bestreben Hermann Schönleins gewesen, vor allem den weniger bemittelten Volksklassen gediegene Unterhaltung und Belehrung durch möglichst preiswerte und gut ausgestattete Zeitschriften zu er­mög­lichen [Schwäbische Kronik 1908]. Es müsse, schrieb ein bürgerlicher Betrachter – mit deutlicher Wendung gegen die als minderwertiger Schund angesehenen Kolportageromane seiner Zeit –, anerkannt werden, dass mit der Schaffung dieser wirklich guten Lesegelegenheiten ungemein viel Gutes gestiftet ward, denn jederzeit war Schönlein eifrig besorgt, den Lesern seiner Zeitschriften weder Sensationsromane noch sonst Minderwertiges zu bieten. [Neues Tagblatt 1908] Bis zum Jahr 1888, als Schönlein sein Geschäft aus gesundheitlichen Gründen an die Gebrüder Kröner verkaufte, waren in seiner Druckerei etwa 30 Schnellpressen in Betrieb, zahlreiche Holzschneider und Chemigraphen arbeiteten an der Herstellung der Druckvorlagen und eine Legion von Kolporteuren im ganzen deutschen Vaterland erwarben sich ihren Lebensunterhalt durch Sammeln von Abonnenten. [Neues Tagblatt 1908]

Der besondere Erfolg Hermann Schönleins, der seit 1857 acht Jahre lang im Geschäft Eduard Hallbergers gearbeitet hatte und dann dessen schärfster Konkurrent auf dem Zeitschriftensektor wurde, bestand also in der Erschließung eines völlig neuen Lek­tü­re­mark­tes. Hatten sich Hallbergers illustrierte Zeitschriften Ueber Land und Meer und Illustrirte Welt noch vorwiegend an ein „vornehmes“ bürgerliches Publikum gewendet, so gelang es Schönlein mit seinen exzeptionell billigen Zeitschriften nunmehr, den Lek­tü­re­markt der kaum bzw. neu alphabetisierten Schichten – entstehendes Stadtproletariat und verarmte Landbevölkerung – zu erschließen. Sein Buch für Alle etwa wurde zu einem bis dahin für unmöglich gehaltenen Preis auf den Markt geworfen[Neues Tagblatt 1908]; es hat dadurch eine geradezu großartige Verbreitung in Kreisen gefunden, die bislang nicht an eine regelmäßige Lektüre gewöhnt waren.[Neues Tagblatt 1908] Schönlein betonte 1883 mit einigem Stolz, Das Buch für Alle sei jetzt [das] nach der ‚Gartenlaube‘ factisch die größte Auflage aufweisende[n] Familien-Journal[Schönlein 1883]. Er kümmerte sich persönlich nicht nur um die herstellerischen und buchhändlerischen Belange seiner Blätter, sondern er leitete auch deren Redaktionen in literarischer wie in illustrativer Hinsicht.

 

„Der Dukatenhof“ und seine Leser

Karl May konnte, betrachtet man die o. g. Parallelausgaben seiner ersten Dorfgeschichte, schon 1879 – im ersten Jahr seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller [vgl. Wohlgschaft 1994] – von Schlesien (Liegnitz) bis zum Rheinland (Düsseldorf, Bensberg), vom Nieder- bis zum Mittelrhein (Neviges; Boppard, Rüdesheim), von Norddeutschland (Lauenburg) bis nach Franken und Bayern (Amberg, Bayreuth, Schweinfurt, Zweibrücken), in der Pfalz (Landau) und Hessen (Kassel, Witzenhausen) gelesen werden. Zudem ist mit den nachgewiesenen Paralleldrucken das tatsächliche Verbreitungsgebiet der Schönleinschen Feuilleton-Beilage erst sehr fragmentarisch beschrieben. Die aufgespürten Drucke dürften kaum mehr als 10 bis 20 Prozent des gesamten Wirkungsbereichs ausmachen, so dass man in der Addition dieser zahlreichen lokalen Märkte bereits von einer regionalen bzw. in Ansätzen auch überregionalen Verbreitung wird sprechen können.

Zahlreiche Jahrgänge des Illustrirten Unterhaltungs-Blatts enthalten Beiträge, die May in seiner Anfangsphase als Vorbilder gedient haben können. Nicht erst durch seine Be­leg­ex­em­pla­re mit dem Dukatenhof wird der Autor auf die Beilage aufmerksam geworden sein. Beispielsweise die Beiträge Die Indianer und die Stille-Weltmeer-Bahn (Nr. 39, 1874), Die Regulatoren (Nr. 52, 1876), Indianer auf der Büffeljagd (Nr. 13, 1877), und Die Eisenbahnen im Westen Noramerika’s (Nr. 11, 1878) zeigen May-verwandte Themen und belegen, dass May sich mit seinen Themen auf die Interessen des zeitgenössischen Publikums eingestellt hat. Die diversen Jahrgänge von Schönleins Beilage enthalten darüber hinaus eine Reihe von ungezeichneten – vermutlich illegalen – Möllhausentexten, die ihrerseits wiederum als Vorbilder für May gedient haben. Aus Möllhausens Tagebuch einer Reise bzw. Wanderungen wurden etwa abgeschriebene Texte über den kalifornischen Riesenbaum, den Riesenkaktus (Nr. 21, 1881) und die Präriehunde (Nr. 51, 1879) abgedruckt. Die Schilderung der letzteren hat May dann zehn Jahre später für seinen Schatz im Silbersee verwendet

Inhaltlich war das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt also ein typisches Reis vom Stamme Schönlein. Zahlreiche Autoren, die auch für dessen andere Zeitschriften schrieben, wurden hier ebenfalls abgedruckt: J. D. H. Temme, A. Streckfuß, F. Friedrich, F. Axmann (den auch Karl May beim Verlag Münchmeyer redaktionell betreute), A. Neumann-Strela, L. Habicht, F. Lilla (der meist das Wildwest-Genre abdeckte und der ebenfalls mit Karl May in Ver­bin­dung stand), später V. Fern, J. O. Hansen, L. Hesekiel, E. H. v. Dedenroth und W. Passauer – meist also mehr oder weniger bekannte bzw. erfolgreiche Autoren von (überwiegend) Kriminalerzählungen. In diesem thematischen Umfeld hat sich May, vor allem am Beginn seiner Laufbahn, vermutlich durchaus wohl gefühlt. – Denn auch Der Dukatenhof wird von einer Kriminalhandlung umrahmt, welche die vier kurzen Kapitel zusammenhält. Deren Überschriften (1. Der Köpfle-Franz, 2. Aus vergangener Zeit, 3. Ein Gottesgericht, 4. Ge­sühn­te Schuld) signalisieren gleichzeitig dramatische Handlung und schuldhafte Ver­stri­ckung. Das dominante Motiv beinahe aller May-Dorfgeschichten – eine böse Tat, die sich am Ende gegen den Täter selbst wendet – lässt unschwer ahnen, dass der Autor, selbst noch nicht lange aus der Haft entlassen, hier eigene Lebenswirrnisse literarisch abzuarbeiten beginnt. Andere Motive der Erzählung erscheinen auch in den späteren Kolportage- und sogar den Abenteuerromanen Mays wieder: der Bettler, der ein Doppelleben führt (man denke an die markante spätere Gestalt des Mübarek) und eigentlich reich ist (ein beliebtes Motiv in Volkserzählungen seit dem Mittelalter) [vgl. Schenda 1979]; der junge Polizist, der erfolgreich den Schmuggel im Erzgebirge bekämpft, dessen Drahtzieher reiche und/oder angesehene Zeitgenossen sind; oder auch der schwache, hier sogar verkrüppelte Held, der wunderbarerweise zum Retter nicht nur seiner selbst sondern sogar seines Todfeindes wird und die unheile Welt (wenigstens vorübergehend) wieder ins Lot bringt.

In einer weiteren Zusammenarbeit mit Schönlein hätte für May also durchaus die Mög­lichkeit bestanden, seine damals noch bestehende, relative lokale bzw. regionale Isolierung zu überwinden. Die Beantwortung der Frage, warum der Autor diese Möglichkeit nicht ergriff und die Zusammenarbeit mit Schönlein nach nur knapp zwei Jahren abbrach, lässt die Quellenlage gegenwärtig nicht zu. Möglicherweise hat May für den zweiten Abdruck des Dukatenhof kein weiteres Honorar erhalten (der komplette Rechteerwerb durch einmalige Zahlung und vielfache Wiederverwertung war damals allerdings noch weit­ver­brei­te­te Usance) und deshalb auf eine weitere Zusammenarbeit verzichtet. Fest steht je­den­falls, dass Schönlein normalerweise anständige Honorare zahlte [Anm.] und dass seine Zeit­schriften Auflagenhöhen erreichten, von denen andere Verleger Mays zu dieser Zeit, etwa Göltz & Rühling in Stuttgart oder Münchmeyer, A. Wolf oder Radelli in Dresden, wohl kaum zu träumen wagten. Das Buch für Alle hatte 1868 eine Auflage von 60.000 und 1886 von 109.000 Exemplaren [Barth 1975], von der Illustrirten Chronik der Zeit wurden 1872 172.000 Exemplare verkauft, und die Auflage der beiden Feuilletonbeilagen soll noch im Jahr 1908 nach hunderttausenden zu berechnen[Schwäbische Kronik 1908] gewesen sein.

Setzt man allein für die achtzehn oben nachgewiesenen Lokalzeitungen, denen das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt mit dem Dukatenhof mit Sicherheit beilag, eine Auflage von jeweils 500 bis 1000 an – eine Größenordnung, die einschlägige Verzeichnisse nahelegen –, dann wäre die May-Erzählung 9000 bis 18.000 mal gedruckt worden; dabei gilt es zu bedenken, dass die Beilage diesen Blättern natürlich nicht nur zur Leserbindung, sondern auch zur Auflagensteigerung beigegeben war, und wohl schon damals (wie heute) die Wochenendausgaben bedeutend höhere Auflagen als die Wochentagsausgaben erzielen konnten. Geht man weiter davon aus, dass mindestens fünf, wenn nicht zehn oder sogar mehr [Anm.] Leser jedes Exemplar dieser Beilage zu Gesicht bekamen, dann hätte allein im Bereich der achtzehn oben angegebenen Lokalzeitungen Karl Mays erste Erzgebirgische Dorfgeschichte etwa 45.000 bis zu 180.000 oder sogar mehr Leser gefunden.

Berücksichtigt man außerdem, dass – wie gesagt – nur ein Bruchteil der tatsächlich von Schönlein belieferten Lokalblätter überhaupt nachgewiesen werden konnte und mit einer Dunkelziffer von achtzig bis neunzig Prozent zu rechnen ist, dann wären diese Zahlen noch einmal mit dem Faktor fünf bzw. zehn zu multiplizieren. Die Leserschaft hätte dann zwischen 225.000 und 1.800.000 betragen! Vor allem verglichen mit den üblichen Buch­auf­la­gen, die sich auf 500 bis 1.000 Exemplare beliefen, ist dies eine enorm große Anzahl. Karl May hatte mithin schon mit seiner ersten Dorfgeschichte zweifellos Zugang zu einem Massenpublikum.

Die Bildungsvoraussetzungen von Mays Publikum waren natürlich die der Konsumenten der Schönleinschen Blätter: Jener unzureichend alphabetisierten und weitgehend un­li­te­ra­ri­sier­ten Land- und Stadtbewohner, die als potentielle Käufer literarischer Erzeugnisse gerade erst am Horizont der bürgerlichen Gesellschaft aufzutauchen begannen, als nämlich neue Techniken in den 1860er Jahren eine bis dahin ungekannt preisgünstige Massenproduktion ermöglichten und damit einen ganz neuen Markt eröffneten. Zugang zu diesem Markt bot allein die Kolportage. Der im Land herumreisende Kolporteur war der Ersatz für fehlende Buchhandlungen, er überbrückte die Schwellenängste seines kaum geschulten Publikums, dessen Wünsche ihm – weil er aus derselben sozialen Schicht stammte – bestens vertraut waren. Er wartete nicht auf Leser, er machte sie, indem er sich zu ihnen hin, in ihre Lebenssphäre hinein begab. Hermann Schönlein hat die enormen ökonomischen Mög­lich­kei­ten, die sich einem findigen Zeitschriftenverleger in dieser Situation boten, konsequent genutzt und damit zugleich seinen Kunden neue Bildungsquellen erschlossen.

Auch Karl May hatte in Kindheit und Jugend zu seinem Lesestoff, außer durch die örtlichen Leihbibliotheken bzw. den Buchbestand lokaler Honoratioren, durch Kolportage gefunden. Er erwähnt jedenfalls in einem Brief an seine Eltern aus dem Jahr 1869 einen Kolporteur Müller, von dem wir früher viel gelesen haben (und dem er wohl auch seine ersten eigenen Manuskripte zur Vermittlung anvertraut hat) [May 1994], und er plante selbst in seiner Frühzeit eine Erzählung mit dem Titel Ein Colporteur[May 1971]. Als er sich von einem Literatur­konsumenten in einen Produzenten verwandelte, wusste er aus eigenem Erleben nur allzu gut, wonach die erfahrungshungrigen Seelen „junger“ – sprich neuer – Leser dürsteten. Er lieferte den Stoff, dem Schönlein das Medium bot: Beide zielten auf das gleiche, noch relativ leseunerfahrene Publikum. Der spätere Erfolg Karl Mays als Ju­gend­schrift­stel­ler beruht vermutlich nicht zuletzt auf dieser früh entwickelten Fähigkeit, für „Erstlesende“ – also: wenig geschulte – Leser zu schreiben [Graf 1995].

Weiterführende Fragen zu Autoren, Publikum und Verlegern der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts müssen hier anknüpfen: Haben die Texte inhaltlich oder strukturell auf die besonderen Bildungsvoraussetzungen ihres Publikums reagiert? Wo sind Kontinuitäten bzw. Brüche zur mündlich überlieferten Literatur zu beobachten [Anm.]? Lassen sich Erfolge bzw. Misserfolge zu diesem Komplex in Beziehung setzten? Welchen Einfluss auf die Form der Erzähltexte hat das vermittelnde Zeitschriftenmedium? Wie ist der soziale Werdegang von Autoren, von Verlegern? (Gab es eine „soziale Promotion“ durch Literatur?) Welche anderweitigen (geistigen, materiellen) Gewinne/Verluste sind bei Lesern, Autoren, Ver­le­gern zu verbuchen? Wie wurden die Vermittlungsprozesse in diesem sich dynamisch entwickelnden Bereich gesamtgesellschaftlich wahrgenommen? Gab es Kritik? Wurden Veränderungen integrativ, abgrenzend oder ausgrenzend besprochen? Haben moderne Produktionsbedingungen auch moderne (Lese-) Haltungen hervorgebracht? Gab es eine „populäre Öffentlichkeit“ oder eher populäre Öffentlichkeiten?

Redaktionelle Nachbemerkung:

Frühere Versionen dieses Aufsatzes enthielten unter der Ziffer P 12 noch folgenden Eintrag:

P 12
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[Wöchentliche Beilage zum] Anzeiger für die Kantone Landau, Annweiler und Bergzabern.
Verlag Kaußler in Landau. [Anm.]

P12
Robert Ciza hat mir dankenswerterweise am 3. März 2023 ne­ben­stehenden Bildbeleg der tatsächlichen Unterhaltungsbeilage zur Ver­fü­gung gestellt, die erkennbar nicht aus dem Hause Schönlein stammte.
Wolfgang Hermesmeier